Spenden und Helfen

"Mein Dämon liebt die Geisterbahn"

Hat Multiple Sklerose ein Gesicht? In der Kolumne von Maximilian Dorner wagt der Autor das Gedankenexperiment: MS als Dämon.

Vor sechs Jahren habe ich für das zweite Buch meinen Dämon als militanten alten Mann im Tarnanzug beschrieben. Ich kam darauf, als mir eine Krankheitsgenossin von einem solchen Herrn erzählte, mit dem sie eine lange Nacht im Schlafwagen zubringen musste. Er schlief nicht, sie deswegen auch nicht, stopfte immer wieder trockenes Brot in sich hinein und trank dazu Milch. – Das passt, dachte ich mir. So stellte ich mir den meinen auch vor: unwirsch und bedrohlich.

Einige Leser konnten mit dem Bild nichts anfangen: Für sie ist und war da kein Dämon, sondern einfach eine Krankheit, mit der man umgehen muss. Kein gruseliges Geschöpf, sondern: Symptome, Bilder, Werte, Therapiemöglichkeiten und so weiter. Recht haben sie, aber ist es nicht zumindest ein spannendes Gedankenexperiment, einer Krankheit ein Gesicht zu geben?

Deswegen wage ich mich heute, wie alle paar Jahre wieder, an eine neue Aufnahme. Wie hat er sich wohl verändert? Eines scheint mir ganz offensichtlich: Er braucht noch mehr Platz auf dem Sofa. Seine Sachen liegen inzwischen in der ganzen Wohnung herum. Sie lassen sich nicht mehr einfach unterm Bett verstauen, wenn Besuch kommt. Zu Beginn meiner Zwangsehe mit diesem Dämon MS war er mir fremd. Ein wenig beängstigend wirkte er, aber auch irgendwie faszinierend in seiner Grummeligkeit. Seine schlechte Laune hatte etwas Komisches. Das Leben mit ihm war wie in der Geisterbahn. Es war immer wie Abenteuer.

Erst mit den Jahren hat sich die Gewissheit eingestellt, dass ich diese Geisterbahn nicht verlassen kann. Dass ich nicht einfach aufstehen kann, um durch den Notausgang nach draußen zu flüchten, wenn es mir zu viel wird.

Es geht also darum, in diesem Wagen irgendwie bella figura zu machen, neben diesem Dämon im Tarnanzug, und mich von allen auftauchenden Gespenstern nicht allzu sehr erschrecken zu lassen.

Maximilian Dorner

seit 2000 Autor, Regisseur und Literaturlektor

  • geboren und wohnhaft in München
  • Studium der Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie
  • u.a. Tätigkeiten als Film- und Hörspielproduzent, Theaterkritiker, Dozent und Dramaturg
  • 2007 Bayerischer Kunstförderpreis für sein Romandebüt "Der erste Sommer"
  • jüngste Publikation "Mein Schutzengel ist ein Anfänger" thematisiert Trost und Heilung
  • www.maxdorner.de

Quelle: AMSEL-Nachrichtenmagazin 04/13; Kolumne: Maximilian Dorner; Bild © Christine Schneider

Redaktion: AMSEL e.V., 28.04.2014