Ich habe mich geirrt. Es ist nicht unmöglich, dass die Daten, die Panzera auf Seite 47 der Präsentation gibt und die auf Seite 50 der Präsentation graphisch dargestellt werden, mit denen aus den NEJM-Studien in Einklang zu bringen sind. Das Problem ist, dass sowohl in der Präsentation als auch in den Studien nicht die Fälle von Infektionskrankheiten gezählt werden, sondern die Probanden, die eine Infektionskrankheit hatten. Das führt dazu, dass man anhand der gegebenen Daten nicht wissen kann, wieviele Infektionen jeder Proband hatte. Und man kann auch nicht sagen, welche Infektionen der einzelne Proband hatte.
Ich will das Problem im Folgenden näher erläutern:
Laut dem Sandrock-Teil der Präsentation, Seite 19, setzen sich die gesamten MS-Probanden aus 67 Phase-1-Probanden, 575 Phase-2-Probanden und 2110 Phase-3-Probanden zusammen. Die Daten zu den Phase-1- und -2-Probanden fehlen mir, das sind allerdings auch nur etwa 23,3 % der gesamten 2752 Probanden. Ich bin mir sicher, dass die 2110 Phase-3-Probanden diejenigen aus den beiden im NEJM veröffentlichten Studien sind – dafür sprechen sehr viele Zahlen in der gesamten Präsentation, z. B. die auf Seite 20 im Sandrock-Teil. Außerdem scheint es andere veröffentlichte Studien ja auch gar nicht zu geben.
Die Nebenwirkungsquoten der Natalizumab/Placebo-Studie finden sich hier:
http://content.nejm.org/content/vol354/issue9/images/large/04t3.jpeg
Die Nebenwirkungsquoten der Natalizumab-Interferon/Placebo-Interferon-Studie finden sich hier:
http://content.nejm.org/content/vol354/issue9/images/large/05t3.jpeg
Beide Tabellen zeigen eindeutig, dass der Prozentsatz von Probanden mit Nebenwirkungen in der Natalizumab-Gruppe bei jeder einzelnen Nebenwirkung und auch bei den Infektionskrankheiten mindestens gleich groß, meistens aber höher war.
Die Zahlen, aus dem Panzara-Teil der Präsentation, die die Grundlage des genannten Graphen (Seite 50) bilden und die mich hier am meisten interessieren, befinden sich auf Seite 47 der Präsentation, in dieser Datei:
www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/06/slides/2006-42 08S1-01-02-%20Biogen-Panzara.pdf
Laut diesen Daten hatten 73,9 % aller 1135 Placebo-Probanden aus allen in Betracht gezogenen Studien eine Infektion, nämlich 839 Probanden. Und 73,7 % aller 1617 Natalizumab-Probanden aus allen in Betracht gezogenen Studien hatten eine Infektion, nämlich 1192. Mit der Rate der Infektionen pro Patienten-Jahr wird ein Verweis auf die absolute Anzahl der Infektionen aller Probanden gegeben. Diese Rate beträgt 1,50 in der Placebogruppe und 1,54 in der Natalizumabgruppe. Das heißt, dass es in der Placebogruppe ungefähr 1,50 * 2 (Jahre) * 1135 (Probandenanzahl) = 3405 Infektionen gab und in der Natalizumab-Gruppe 1,54 * 2 * 1617 = 4980 Infektionen. Dadurch wissen wir aber auch nicht, was das für Infektionen waren.
Wie kann es nun aber erklärt werden, dass sowohl die durchschnittliche Zahl der Infektionen pro Probandenjahr wie auch die durchschnittliche Zahl der Probanden mit Infektionen in der Placebogruppe prozentual fast genauso groß war wie in der Natalizumab-Gruppe, obwohl aus den Nebenwirkungstabellen der NEJM-Studien doch eindeutig hervorgeht, dass der Prozentsatz der Natalizumab-Gruppe bei jeder Nebenwirkung höher liegt?
Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe:
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Die Prozentangaben in den Nebenwirkungstabellen sagen nur etwas darüber aus, wieviele Probanden Nebenwirkungen hatten, nicht aber, wie häufig diese Nebenwirkungen auftraten. Wenn wir z. B. wissen, dass Magen-Darm-Infekte in der Natalizumab/Placebo-Studie bei 11 % der Natalizumab-Probanden auftraten, aber nur bei 9 % der Placebo-Probanden, so wissen wir nicht, wie häufig die Infekte bei den betroffenen Probanden auftauchten. Es ist möglich, dass die 9 % betroffenen Placebo-Probanden viel häufiger erkrankten als die 11 % der betroffenen Natalizumab-Probanden, so dass es insgesamt mehr Magen-Darm-Infekte in der Placebo-Gruppe gab als in den Natalizumabgruppe, obwohl prozentual weniger Personen davon betroffen waren als in der Natalizumabgruppe.
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Die Prozentangaben in den Nebenwirkungstabellen lassen sich nicht einfach addieren um auf die Gesamtprozentzahl der Probanden mit Nebenwirkungen bzw. Infektionen zu kommen. Jeder Proband, der einen Magen-Darm-Infekt hatte, kann auch einen anderen Infekt gehabt haben, so dass er in den Angaben in den Nebenwirkungstabellen doppelt und dreifach auftaucht. Wenn man diese Angaben nun einfach addiert, dann tut man so, als wäre dieser eine Proband zwei oder drei Probanden.
Diese beiden Gründe sorgen zusammen dafür, dass man aus den Nebenwirkungstabellen überhaupt nicht schließen kann, einerseits wieviele Probanden in beiden Gruppen jeweils einen oder mehrere Infekte hatten und andererseits wieviele Infekte in beiden Gruppen jeweils insgesamt vorkamen. Wenn die Probanden aus der Natalizumab-Gruppe eher viele verschiedene Infektionen pro Proband hatten, während die Probanden aus der Placebo-Gruppe eher viele gleichartige Infektionen pro Proband hatten, wäre die Diskrepanz zwischen den Nebenwirkungstabellen und den Panzara-Daten erklärt.
Es gibt aber noch zwei weitere Gründe, warum mein Einspruch gegen die Daten aus der Panzara-Präsentation nicht berechtigt war:
- Nicht alle Nebenwirkungen werden in den Tabellen aufgelistet:
Diese Passage aus der Polman-Studie ist dazu sehr aufschlußreich:
(Übersetzt von mir:)
„Infektionen waren im Allgemeinen mild bis mittelmäßig-schwer und führten nicht zur Unterbrechung der Natalizumab-Einnahme. Die gesamte Ausdehnung der Infektion war 79 Prozent in jeder Behandlunggruppe und mit einer Rate von 1 pro Patienten-Jahr in jeder Gruppe. Als die Rate neu analysiert wurde, um mehrfaches Auftreten der Infektionen einzuschließen, ging sie in jeder Gruppe nach oben, wie erwartet. Jedoch gab es auch dort keine bedeutenden Unterschiede zwischen den Gruppen, insofern die Infektionen mit einer Rate von 1,52 pro Patienten-Jahr in der Natalizumab-Gruppe auftrat und von 1,42 pro Patienten-Jahr in der Placebogruppe (P = 0.32). Allgemeine Infektionen waren Nasopharyngitis/Erkältung (32 Prozent der Patienten, die Natalizumab empfingen und 33 Prozent von den Patienten, die Placebo empfingen), Grippe (17 Prozent und 16 Prozent), Vireninfektionen der oberen Atemwege (13 Prozent und 15 Prozent), die nicht anderweitig spezifizierten Urin-Trakt-Infektionen (13 Prozent und 12 Prozent), nicht näher spezifizierte Infektionen der oberen Atemwege (13 Prozent und 11 Prozent) und Pharyngitis/Rachenentzündung (12 Prozent und 10 Prozent).“
(Original: „Infections were generally mild to moderate in severity and did not lead to drug discontinuation. The overall incidence of infection was 79 percent in each treatment group and occurred at a rate of 1 per patient-year in each group. When the rate was reanalyzed to include multiple occurrences of infection, it went up in each group, as expected. However, there remained no significant differences between the groups, with infections occurring at a rate of 1.52 per patient-year in the natalizumab group and 1.42 per patient-year in the placebo group (P=0.32). Common infections were nasopharyngitis (32 percent of patients receiving natalizumab and 33 percent of patients receiving placebo), influenza (17 percent and 16 percent, respectively), upper respiratory tract viral infection (13 percent and 15 percent), urinary tract infection not otherwise specified (13 percent and 12 percent), upper respiratory tract infection not otherwise specified (13 percent and 11 percent), and pharyngitis (12 percent and 10 percent).”)
Es gibt also auch ein paar Nebenwirkungen, die in der Placebogruppe häufiger waren als in der Natalizumab-Gruppe, nämlich Erkältungen und Virusinfektionen der oberen Atemwege. Diese Nebenwirkungen werden in der Tabelle gar nicht erwähnt.
Außerdem ist dieser Abschnitt interessant, weil er die Infektionsrate pro Patienten-Jahr in der Polman-Studie angibt: 1,52 Natalizumab zu 1,42 Placebo. Die Gesamtzahl der Infektionen lag also in der Natalizumab-Gruppe bei 1,52 * 2 (Jahre) * 627 (Probandenanzahl) = 1906 und in der Placebogruppe bei 1,42 * 2 * 327 = 929.
In der anderen NEJM-Studie von Rudick und anderen, in der Natalizumab-Interferon mit Placebo-Interferon verglichen wurde, gibt es einen ähnlichen Absatz (den ich allerdings nicht extra übersetze):
„The incidence of infection was 83 percent in the combination-therapy group and 81 percent in the group assigned to interferon beta-1a alone; infections occurred at a rate of 1 per patient-year in each group. When the data pertaining to infection were reanalyzed to include multiple occurrences, the rate increased in each group, as expected. However, there remained no significant difference between the groups, with infection rates of 1.54 per patient-year with combination therapy and 1.53 per patient-year with interferon beta-1a alone (P=0.95). Common infections were nasopharyngitis (39 percent vs. 35 percent); urinary tract infection, not otherwise specified (18 percent vs. 19 percent); sinusitis, not otherwise specified (18 percent vs. 15 percent); upper respiratory tract infection, not otherwise specified (17 percent vs. 18 percent); and influenza (17 percent vs. 15 percent).”
Hier tauchen nicht näher spezifizierte Urin-Trakt-Infektionen und Sinusitis/Nebenhöhlenentzündungen geringfügig häufiger in der Placebo-Gruppe auf.
Die Infektionsrate pro Patienten-Jahr liegt bei 1,54 bei Natalizumab-Interferon gegenüber 1,53 bei Placebo-Interferon, also noch etwas ausgeglichener als in der Polman-Stuide. Die Gesamtzahl der Infektionen lag also in der Natlizumab-Interferon-Gruppe bei 1,54 * 2 * 589 = 1814 und in der Placebo-Interferon-Gruppe bei 1,53 * 2 * 582 = 1781.
- Die Phase-1 und -2-Studien sind mir nicht bekannt und können für Natalizumab günstiger ausfallen. (Müssen es aber gar nicht, wenn man das Ergebnis der folgenden Überlegungen betrachtet.)
Allerdings ist es möglich, noch eine Schlussfolgerung auf die 642 Probanden dieser unbekannten Studien zu ziehen. Leider stimmen die Daten irgendwie nicht miteinander überein. Sandrock nennt 2110 Probanden der Phase-3-Studien. In den beiden NEJM-Studien wurden aber Nebenwirkungen für 2125 Probanden aufgelistet. Vielleicht sind die überzähligen 15 irgendwelche Studienabbrecher – ich überblicke das gerade nicht ganz. Aber ich bin mir nach wie vor sicher, dass Sandrocks Daten sich auf die NEJM-Studien beziehen.
Ich vernachlässige diese unterschlagenen 15 Probanden im Folgenden einfach, sie machen nur 0,545 % der gesamten Probandengruppe von 2752 aus, verfälschen die Rechnung also nur minimal.
Also, wenn die Angaben in den NEJM-Studien korrekt sind und wenn die Angaben von Sandrock und Panzala in der Präsentation korrekt sind, dann müsste Folgendes gelten:
2125 Probanden aus den beiden NEJM-Studien hatten insgesamt 627 + 589 = 1216 Probanden insgesamt 1906 + 1814 = 3720 Infektionen bei Natalizum-Gabe und 327 + 582 = 909 Probanden insgesamt 927 + 1781 = 2710 Infektionen bei Placebo-Gabe. Zumindest von den 2752 Probanden der Gesamtgruppe wissen wir (siehe ziemlich weit oben in diesem Beitrag), dass es in der Natalizumab-Gruppe 4980 Infektionen gab und in der Placebo-Gruppe 3405 Infektionen. Die restlichen 642 Probanden aus den Phase-1- und -2-Studien müssen also in der Natalizumab-Gruppe 4980 – 3720 = 1260 Infektionen und in der Placebo-Gruppe 3405 – 2710 = 695 Infektionen. Es handelte sich (nur ungefähr, wegen der überschüssigen 15, von denen ich 10 auf die Natalizumab-Gruppe packe und 5 auf die Placebogruppe) um 1617 – 1216 + 10 = 411 Probanden, die Natalizumab erhielten und um 1135 – 909 + 5 = 231 Probanden, die Placebo erhielten.
Damit müsste die Verteilung der Infektionen in den Phase-1- und -2-Studien so ausgesehen haben:
Infektionsrate pro Patienten-Jahr in der Natalizumabgruppe: 1260 / (2 * 411) = ungefähr 1,53
Infektionsrate pro Patienten-Jahr in der Placebogruppe: 695 / (2*231) = 1,50
Dieses Ergebnis fällt jedenfalls nicht aus dem Rahmen der NEJM-Studien.
Quintessenz: Die Daten von Panzara werden wahrscheinlich doch stimmen, auch wenn das den NEJM-Nebenwirkungstabellen auf den ersten Blick überhaupt nicht anzusehen ist.
Allerdings bezieht sich das ausgeglichene Verhältnis nur auf Infektionen. Wäre z. B. Fatigue ähnlich ausgeglichen, würde das sicherlich in einer der Studien oder in der Präsentation auftauchen – tut’s aber glaube ich nicht.
Hmmm, meine gestrigen Beiträge zum Thema und dieser Beitrag wirken wahrscheinlich ziemlich wie Spiegelfechterei. seufz Dann bin ich wohl doch ein biogen-Agent.
Insgesamt würde ich mir wünschen, dass Studien, die ja heutzutage eh alle auch online veröffentlicht werden, ihre (selbstverständlich anonymisierte) Datenbasis mitveröffentlichen. Das würde einiges erleichtern …