Hallo Nele,
wie lang ich schon MS habe, ist schwer zu sagen. Die ersten auffälligen Symptome hatte ich in dem höllenheißen Sommer 2003, da war ich 49. Es ist gut möglich, dass ich die MS da schon viel länger hatte, aber am Anfang verläuft sie ja oft so unauffällig, dass man gar nicht auf die Idee kommt, zum Arzt zu gehen, wegen etwas, was nach ein paar Tagen von selber wieder weggegangen ist, z.B. einem kribbelnden Fuß oder einem bisschen Drehschwindel. Ich sowieso nicht, da ich eine Weißkittelphobie hatte und nicht mal einen Hausarzt hatte.
Im Sommer 2003 bekam ich eine seltsame Missempfindung an der Außenseite des linken Oberschenkels; es fühlte sich an, als hätte ich mich da mit dem Bügeleisen verbrannt. Da kam ich spontan auf die Idee: Das könnte ein Schub sein! Eine Bekannte von mir hat seit ~1986 MS, und ich hatte ihretwegen immer mal wieder etwas darüber gelesen.
Aber ich hatte auch immer wieder gelesen: “MS ist eine Erkrankung junger Erwachsener”, und die Frauen in den Fallgeschichten der Laienratgeber waren regelmäßig höchstens 30. Meine Bekannte hatte die Diagnose mit 23 bekommen und war mit 28 erwerbsunfähig, und ich sagte mir selber: Lächerlich, ich bin doch viel zu alt für MS!
Rückblickend kann ich sagen, dass ich in den Jahren 2003/04 zwischen acht bis zehn Schübe gehabt haben muss, von denen jeder einen Dauerschaden hinterließ. Ein Symptom, das sich nicht mehr verdrängen ließ, waren die starken Schmerzen - die mich auch wieder verunsicherten, denn überall las ich, MS tue nicht weh, und vielleicht hatte ich ja doch nur eine ramponierte Bandscheibe?
Die Schmerzen trieben mich dann als erstes zum Orthopäden, ich dachte an eine Ischialgie, denn mit der LWS hatte ich schon lange Probleme gehabt. Der Orthopäde brauchte zehn Minuten, um festzustellen, dass ich keine Ischialgie hatte, telefonierte kurz, und schickte mich postwendend weiter zum Neurologen, noch am selben Tag.
Der piekste ein paar Elektroden in mich rein, maß verschiedene Ströme und Potentiale und wies mich notfallmäßig ins KH ein. Ich las auf der Einweisung “V.a.entz.Erkr.d.ZNS”, und sagte zu ihm: “Aha, das habe ich mir schon gedacht”, und er erschrak und meinte: “Nein, nein, es muss nicht gleich das Schlimmste sein!” Nett von ihm, aber ich wusste in dem Moment, dass ich mit meinem Verdacht nicht so ganz falsch gelegen hatte.
Kompliment: beide, Orthopäde und Neurologe, waren Könner, sie brauchten zusammen keine zwei Stunden, um zu sehen, was los war. Der Neurologe war da aber schon dabei, sich zur Ruhe zu setzen, sodass das leider nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft wurde.
Am nächsten Tag ging’s weiter zum Radiologen, für 80 Minuten in die Röhre. (Damals dauerte ein komplettes MRT von Schädel und Wirbelsäule noch so lang!) Auf den Bildern sah man die üblichen Flecken, etwa zehn an der Zahl, die Kontrastmittel aufnahmen. Der Radiologe zählte dann die üblichen Verdachtsdiagnosen auf (z.B. Neuroborreliose, Neurolues …); natürlich wollte er sich nicht festlegen.
Für den Fall, dass es wirklich MS wäre, las ich mich rasch noch ein bisschen ins Thema ein, um im KH nicht da zu stehen wie die Kuh vorm neuen Scheunentor. Die Basistherapien kannte ich schon lange von meiner Bekannten (die übrigens seit Oktober 2006 Tysabri bekommt); Avonex und Copaxone hatte ich schon für ungeeignet befunden, nur zwischen Beta und Rebif schwankte ich noch.
Diese Wahl fiel mir tatsächlich nicht leicht, da die Daten der Vergleichsstudien für Rebif 44 als wirkstärkstes Interferon sprachen, und auch die beim Interferon-beta 1a geringere Wahrscheinlichkeit, neutralisierende Antikörper zu bilden, als beim Interferon-beta 1b, aber weil ich gegen Tod und Teufel allergisch bin, wollte ich dann doch lieber keine Fertigspritzen, und entschied mich für Betaferon, das ich immer noch spritze, 7 Jahre und 10 Monate nach der Diagnose.
Wie gesagt, den klugen Neuro, der mich vom Fleck weg in die Röhre und ins KH gesteckt hatte, sah ich leider nicht wieder, da er sich gerade zur Ruhe setzte; es gab in der Nähe (15 km) dann nur noch einen, den ich wohl oder übel nehmen musste, wenn ich nicht weit fahren wollte, und das schaffte ich schon damals kaum noch. Wir haben uns aber zusammengerauft, sind inzwischen ein Herz und eine Seele, und schenken uns auch was zu Weihnachten.
Ich war mal selbstständig; ab Diagnose bin ich schwerbehindert (damals GdB 80, inzwischen 90, G, aG und B) und voll erwerbsgemindert kraft amtsärztlichen Attests. Ich konnte da schon kaum noch Auto fahren, weil ich nicht mehr gut genug sah und die Füße nicht mehr schnell genug auf die Pedale brachte.
Zwei Jahre nach der Diagnose gab ich das Autofahren ganz auf, ich traute mich schlichtweg nicht mehr und wollte aufhören, ehe es zu spät war. Auf dem Land und ohne barrierefreien ÖPNV ist es ziemlich blöd, kein Auto zu haben, aber zwei Freundinnen kaufen abwechselnd für mich ein; Non-Food aller Art erwerbe ich im Versandhandel. Und zum Arzt fahre ich mit dem Taxi.
Sonst geht es mir eigentlich nicht schlecht mit der MS. Ich glaube, was mir am meisten zu schaffen machen würde, wären kognitive Einschränkungen, ein Nachlassen meiner geistigen Fähigkeiten. Um dem entgegenzuwirken, muss man das Hirn jeden Tag trainieren, denn, wie für einen Muskel, gilt auch für das Gehirn: Use it or lose it!
Das heißt: Jeden Tag etwas auswendig lernen, oder kopfrechnen, oder etwas aus einer Fremdsprache übersetzen; Hauptsache, man trainiert es. Überlasten können wir unser Gehirn nicht; es kann ein Vielfaches von dem leisten, was wir ihm im Alltag abverlangen. Hirnzellen gehen vielleicht durch Nervengifte wie Alkohol kaputt, durch einen Schlaganfall, Durchblutungsstörungen oder MS, aber nicht durch Lernen. Man sollte zum Beispiel täglich etwas auswendig lernen, oder z.B. kopfrechnen. Wenn es zuviel wird, schlafen wir einfach ein.
Für meinen Neuro bin ich längst eine “Vorzeigepatientin”, denn wer meinen rapiden Behinderungsfortschritt vor der Diagnose kannte (in 2 Jahren von EDSS 1 auf 6,5), hätte nicht drauf gewettet, dass ich acht Jahre danach immer noch allein zurecht komme. Naja, mit Einschränkungen: Gehen nur noch mit Rollator möglich; Autofahren nicht mehr. Aber ich kann mich noch selber waschen und anziehen, und das ist mit MS in meinem Alter (58) nicht mehr so selbstverständlich.
Liebe Grüße
Renate