Da das Thema „Remyelinisierung“ hier im Zusammenhang mit ein paar Hauruck Selbstversuchen im Sinne von: „schlucke mal 2-3 Monate und schaue was rauskommt“ gebracht wird, anbei mal etwas Kontext zum Thema und wie wissenschaftlich bzw. in klinischen Studien oft versucht wird, Ansätze für eine gewisse Wirkung zu finden.

Prämisse: Das Gehirn ist allgemein energetisch sehr aktiv und verbraucht eine große Menge an Energie. Diese Energie wird in kleinen Organellen im Inneren der Zellen, den Mitochondrien, erzeugt. Dort wird Adenosintriphosphat ATP hergestellt, das eine Einheit der Zellenergie ist.

Während der Demyelinisierung von Neuronen im Gehirn bewegen sich die Mitochondrien aus dem Zentrum der Nervenzelle in Richtung der Nervenbahnen, in denen das Myelin verloren geht, damit die benötigte Energie, um den Nerv am Feuern zu halten, weiterhin möglichst gering gehalten werden kann. Wenn diese Nervenbahnen nämlich keine ausreichende Energie erhalten um korrekt zu funktionieren, dann können sie absterben und permanent geschädigt werden.

Um bestehende Nervenbahnen also zu schützen, ist es essentiel, die Mitochondrien dazu bringen zu können, möglichst schnell und zahlreich in die Bereiche der Myelinschädigung zu gehen. Eine Reparatur der angegriffenen Nervenbahnen im Sinne einer Remyelinisierung könnte dann im 2ten Schritt - auch mit Hilfe der präsenten Mitochondrien- erfolgen, also nachdem der betroffene Nerv „gerettet“ wurde.

Pathologische Untersuchungen haben bestätigt, dass an nach einer Demyelinisierung degenerierten Axonen, idR Mitochondrien nicht ausreichend vorhanden waren, was heissen will, dass die homöostatische Reaktion der Mitochondrien (ARMD) wohl zu spät und zu gering war. Eine Verstärkung der ARMD, indem sie auf die mitochondriale Biogenese und den mitochondrialen Transport vom Zellkörper zum Axon abzielt, schützt akut demyelinisierte Axone vor Degeneration.

Die Verbesserung der mitochondrialen Dynamik in komplexen IV-defizienten Neuronen schützt das Axon also bei einer Demyelinisierung. Folglich ist die verstärkte Mobilisierung der Mitochondrien vom neuronalen Zellkörper aus hin zum Axon eine wichtige neuroprotektive Strategie für das verletzliche, akut demyelinisierte Axon. Forscher gehen daher mittlerweile seit Jahrzehnten davon aus, dass die Förderung von ARMD wahrscheinlich ein entscheidender vorausgehender Schritt zur Umsetzung potenzieller regenerativer Strategien für demyelinisierende Störungen ist.

https://link.springer.com/article/10.1007/s00401-020-02179-x

Es gibt daher seit mehr als 15 Jahren Experimente, ARMD genetisch und mit zugelassenen Medikamenten wie Pioglitazon und/oder Metformin, die dafür bekannt sind, diese Wirkung zu unterstützen, zu verbessern. Trotz der begrenzten Mittel sind dabei bislang eigentlich durchweg positive Ergebnisse erzielt. Es findet aber leider bisher einfach keine gezielte Pharmaforschung auf diesem Gebiet statt was eigentlich wieder mal bestimmte Vorbehalte bestätigt.

https://jamanetwork.com/journals/jamaneurology/fullarticle/2499459

Worauf ich letztendlich hinaus will ist, dass viele dieser Ansätze - und dazu gehören z.B. auch konzentriertes Biotin oder Alphaliponsäure - einen langfristigen Effekt haben zur Vermeidung permanenter Folgen von demyelinisierenden Ereignissen und nicht der Herstellung von Verbesserungen in einem überschaubaren Zeitraum.

Wer danach sucht, sollte eher darauf hoffen, dass bei anderen Forschungsaktivitäten wie z.B. mesenchymalen Stammzellen Therapien, die mancherorts schon mit Phase II Studien gestartet sind, mal was rauskommt, als spontan auf „Remyelinisierungsmittelchen“ zu setzen und verwundert sein, wenn nichts rauskommt…

https://www.tischms.org/stem-cell-trial-for-ms

https://www.neuronetwork.unibas.ch/brainweek09/documents/Prof_Schaeren.pdf

Oligodendrozyten brauchen Uridinmonophosphat.

lg

Philipp

Danke Marc
für deinen sehr informativen Beitrag. Dass die Pharma bei möglichen Hoffnungsträger nicht anspringt, bestätigt leider auch meine Vermutungen. Wir sind bestenfalls Versuchsmaterial, dass immer wieder mit teuren Mittelchen gelockt wird, aber eben nicht wirksam therapiert.

Du hast das Geschehen auf zellulärer Ebene ja auch viel besser im Blick als ich. Was ist deine Meinung dazu? Ich nehme seit ungefähr drei Jahren Biotin, inzwischen ein Jahr lang nur noch 100 mg am Tag. Weil ich keine Verbesserungen feststelle, wollte ich es, wenn es aufgebraucht ist, absetzen. Bei dir lese ich nun aber, dass es bestenfalls die weitere Demyelinisierung verhindert, was ja auch schon ein Erfolg ist und was bei mir möglicherweise zutrifft. Also dabei bleiben?

Danach wollte ich einen Versuch mit Q10 machen. Wirkt es auf ähnliche zellulärer Mechanismen wie das Biotin?

Fortsetzung: davon erhoffe ich mir mehr zelluläre Energie für die Muskulatur und deren Training und eine Verzögerung der Erschöpfung, siehe mein gestarteter Thread heute.

Hallo Winter,

danke für dein Interesse am Thema. Ja, die Pharma wird wohl zumindest in der näheren Zukunft weiterhin auf Therapien zur Verminderung von autoimmunen Entzündungsreaktionen setzten. Ich denke daher, daß in den kommenden 5-10 Jahren zunehmend “Kombitherapien” empfohlen werden, also mit einer gängigen Therapie und dazu einem Wirkstoff zum Schutz vor entzündungsbedingter neuronaler Degeneration.

Aktuell auf “remyelinisierende Mittel” zu setzen ist eigentlich verfrüht solange nicht mal klar ist, wie eine Stimulierung von Oligodendrozyten in einem demyelinisierten ZNS gesteuert werden sollte. Auf MRT Bildern sind idR. unzählige Entzündungsstellen zu erkennen. Woher sollte der Körper nun genau wissen, an welchen Stellen wieviel Myelin nachproduziert werden müsste…?

Wie geschrieben, es gibt hingegen mittlerweile ein besseres Verständnis zu den MS bedingten zellulären Prozessen in den Nervenzellen. Hier sticht insbesondere der (negative) Effekt von Entzündungsreaktionen auf die Energiebillanz heraus. Dieser Effekt ist sowohl kurzfristig - im Anschluß an eine erfolgte Demyelinisierung - als auch langfristig - aufgrund von permanenten unterschwelligen Entzündungsreaktionen im Rahmen einer progredient verlaufenden MS.

Da das Gehirn schon bei gesunden Menschen über 20% der täglichen Energiebilanz verbraucht, kann man sich eigentlich nur vorstellen, wieviel zusätzliche Energie im Kopf und Körper bei kaputten Nervenbahnen abgezogen wird. Das macht sich auch idR. mit der charakteristischen MS Fatigue bemerkbar.

Daher sollte man eigentlich Nahrungsergänzungsmitteln, die zur Erhöhung der produzierten Energie in den Mitochondrien der Nervenzellen biesteuern, uneingeschränkt empfehlen können. Biotin und Q10 gehören sicherlich dazu. Wieviel man davon dosiert, bleibt jedem wohl selber überlassen. Als Messgrad für die Wirkung sollte jedoch vor Allem eine Verbesserung der Fatigue genommen werden. Und wenn diese nicht erreicht wird, dann wäre es durchaus sinnvoll zunächst die Dosis zu erhöhen bevor man absetzt.

Viele Grüße,
Marc

Hallo Marc
würdest du diesen sehr interessanten Ansatz mit dem ATA188 (https://www.atarabio.com/pipeline/ata188/) auch als “Therapien zur Verminderung von autoimmunen Entzündungsreaktionen” bezeichnen oder würdest du ihn als etwas Neues bezeichnen?
Grüsse MO

“Therapien zur Verminderung von autoimmunen Entzündungsreaktionen” wäre eine passende Bezeichnung für diesen Ansatz wobei es hier vermutlich um eine wirkliche Immunreaktion geht und nicht um irgendein “auto-”.

Es geht hier nämlich wohl um einen Versuch die Zerstörung von Myelinscheiden durch Makrophagen zu reduzieren. Die Makrophagen getriebene Myelinzerstörung ist im MRT gut erkennbar an den Rändern von “schwelenden” T2 Läsionen weil fleckenförmig und im Auftreten sehr unterschiedlich zu den MS-typischen Läsionen.

Es entsteht daher der Eindruck, als ob der Körper an diesen Stellen wirklich versuchen würde, fremdartige Viren im Myelingewebe zu attackieren. Wenn es sich bei diesen Viren um Epstein-Barr handeln sollte, dann könnte womöglich eine Reduktion der Zerstörungen erzielt werden.

Von der kurzen Beschreibung hier ausgehend, vermute ich aber, dass bei diesem Ansatz eine ursächliche Behandlung der MS zu erreicht werden soll basierend auf der Vermutung, daß EBV infizierte B-Zellen zu einer Fehlsteuerung der Immunreaktion führen können.

Dann wäre diese Therapie aber als rein prophylaktisch anzusehen und entsprechende Studien über einen längeren Zeitraum anzusetzen.

Danke Marc,

es klingt logisch, was du schreibst. Dann werde ich jetzt mal zusätzlich zum Biotin das Q10 beginnen und schauen, ob sich etwas ändert …

Beste Grüße Winter

Wenn du eine genauere Antwort suchst würde ich auf dieses Gespräch verweisen in welchem das theoretische Konzept hinter ATA188 beschrieben wird.

https://soundcloud.com/bioanalysis-zone/nctalks-at-aan-2017-michael-pender-on-a-new-multiple-sclerosis-treatment

Wenigstens hat sich endlich mal jemand zum Ziel gesetzt, eine ursächliche Therapie zu entwickeln um eine MS komplett aus dem Körper zu beseitigen. Und dieser Ansatz steht auch schon seit 17 Jahren ohne dass er bisher widerlegt werden konnte.

Leider werden die entsprechenden Studien - wie vermutet- nicht vor 2026/27 abgeschlossen sein.

https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03283826

Aber was sind die paar Jahre schon im Vergleich zu den Jahrzehnten, die bisher ergebnislos verstrichen sind…