Hallo Luisa,
du schreibst:
“Aber nicht weil sie es von Anfang an besser wussen, sondern weil sie Erfahrung sammelten.”
Das kann man so nun wirklich nicht sagen. Die Dosen, die du in diesem Zusammenhang erwähnst (“Es begann mit 3 x täglich 2,5 und endete am 8. Tag mit 3 x 0,5, am 4. und am 9. Tag gab es das Adrenocorticotrope Hormon”) sind für mich nicht nachvollziehbar, zumal du nicht angibst, von welchem Cortison, und übrigens auch keine Einheit (mg? g? Tablettenbruchstücke?).
Von Prednisolon wäre “3 x täglich 2,5” (mg?) eine nahezu unwirksame Minidosis, da der menschliche Körper täglich in der Nebennierenrindeeine Cortisolmenge produziert, die 7,5 mg Prednisolon äquivalent ist. Ich kann aus deinen Ausführungen nur den Schluss ziehen, dass du damit nicht Prednisolon meinst, sondern ein wesentlich wirkstärkeres Cortison.
Das stärkste ist Dexamethason, aber selbst von dem sind 3 mal täglich 0,5 mg eine zu vernachlässigende Dosis und reichen nicht aus für eine Stoßtherapie bei einer akuten Erkrankung, sie reichen nicht mal als Erhaltungstherapie bei Morbus Addison.
Das ACTH verabreicht man schon lange nicht mehr, man ist wegen der verheerenden Nebenwirkungen (Leukozytose, Hyperglykämie, Bluthochdruck, Erbrechen, Magenblutungen, Herzversagen) längst davon abgekommen.
Bis zur Optikusneuritis-Studie von Beck et al. 1992 behandelte man Schübe mit Dexamethason-Tabletten (in der DDR war das bis zur Wende üblich), und zwar in Dosen zwischen 24 und 40 mg, was 180 bis 300 mg Prednisolon äquivalent ist. Man braucht nur ehemalige Ossis zu fragen, was sie im Schub bekommen haben. Mir haben es zwei so erzählt, eine Potsdamerin und ein Leipziger.
Nach der Optikusneuritis-Studie 1992 hatte man endlich überhaupt eine Studie zu Cortison bei MS - mit den Jahrzehnte alten Glucocorticoiden hätte sich für keinen Hersteller eine Studie gerechnet, deshalb machte man keine. Es ist kein Patent drauf, und sie wurden bis dahin evidenzbasiert und individualisiert eingesetzt.
Die Studie von Beck et al. war die erste überhaupt! Endlich hatten die Schisshasen unter den Weißkitteln, die für alles Studien und Leitlinien brauchen, und sich nicht trauen, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen und zusammen mit dem Patienten die geeignete Dosis zu finden, einen Katechismus, an den sie sich klammern konnten.
Da juckte es auch nicht, dass man 2004 feststellte, dass die Optikusneuritis (Devic-Syndrom, NMO) gar keine MS ist, sondern eine eigenständige Krankheit. Man hatte endlich eine Studie, hurra, und seit 1992 pumpte man in alle Schubpatienten ohne Rücksicht auf Verluste diese Horrormengen Prednisolon oder Methylprednisolon rein. Von einem Stoff, von dem unser Körper täglich eine Menge produziert, die 7,5 mg Prednisolon (oder 1 mg Dexamethason) entspricht!
Hormone wirken in unserem Körper in unvorstellbar kleinen Mengen, von Betaferon reichen 0,25 mg alle zwei Tage. Dass 1000 mg Prednisolon nicht tödlich sind, heißt nicht, dass sie nötig sind! Eine Tagesdosis von 40 mg Dexamethason, wie sie bis 1992 üblich war, ist schon sehr hoch - das Vierzigfache der körpereigenen Tagesproduktion (mir reichen 24 mg) - aber 1000 mg Prednisolon, das ist das 133 1/3-fache der körpereigenen Tagesproduktion!
Ich halte das für Irrsinn, und dabei bleibe ich auch. Die Stoßtherapie wurde deswegen vor 20 Jahren geändert, weil die Ärzte immer weniger den Mut haben, auf ihren gesunden Menschenverstand zu vertrauen (wie es beispielsweise noch Ingo S. Neu tat, der die TCA-Therapie entwickelte). Mit der Optikusneuritis-Studie hatten sie endlich eine “Leitlinie”, an der sie stur entlang behandeln konnten.
Sie mussten nicht mehr selber denken und sich mit dem Patienten auseinandersetzen, sie hatten ihre Direktiven, mit denen sie nichts riskierten, nicht mal dann, wenn der Patient nach 10 solchen Stoßtherapien erblindete oder Gelenksendoprothesen in Hüften und Schultern brauchte.
Es steht ja so in den Leitlinien! “Ich kann nichts dafür, ich habe nur meine Befehle befolgt”, die Ausrede kennen wir aus der deutschen Geschichte zur Genüge. (Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich …)
Mein Neuro hat sich auch nicht wirklich getraut, mir mein Dexamethason zu verschreiben, und das, obwohl er mal Assi-Arzt von Prof. Neu war und sicher in viele Lumbalsäckchen gepiekt und TCA hineingespritzt hat. Da müsste er doch gelernt haben, selbstständig zu denken. Als seit 10 Jahren niedergelassener Neuro macht er das aber nicht mehr (allerdings ist seine Altbaupraxis für eine TCA-Verabreichung auch nicht geeignet, er gibt auch keine Infusionen).
Erst nachdem ich das Dexamethason vom Hausarzt bekommen hatte, und die Einnahme nach meinen eigenen Leitlinien ohne Schäden überstanden hatte, fasste er etwas Vertrauen, und traute sich, es mir zu verschreiben. Von meinem Hausarzt bekomme ich es sogar geschenkt. Die letzte Stoßtherapie damit habe ich vor fast zwei Jahren durchgeführt, seither habe ich es nciht mehr gebraucht.
Ich finde, durch die “offiziellen” Leitlinien wurde die Stoßtherapie nur verschlimmbessert. Seit 20 Jahren werden SchubpatientInnen mit diesen Horrordosen von Prednisolon und Methylprednisolon abgefüllt, und mindestens die Hälfte leiden unter üblen Nebenwirkungen und Hypokaliämie. Die leitlininen-treuen Neuros juckt das kein bisschen. Ich lasse mir das jedenfalls nicht mehr gefallen.
Liebe Grüße
Renate