@Barocke
Ja, in den 1970ern sprach man auch von “Konsumterror”. Die “Verblendung” spielte vor allem in der Lukács-Rezeption eine Rolle (die bis in den französischen Strukturalismus der 1960er- und 1970er-Jahre hineinreicht), die wiederum mit Marx’ Abschnitt im “Kapital” zum Fetischcharakter der Ware zusammenhängt - und da gab und gibt es durchaus qualifizierte Debatten (aktuell anlässlich der neuen Lukács-Werkausgabe, die im Aisthesis Verlag erscheint), nicht nur dummes Geschwätz.
Was ist an konsumkritischen Weihnachtsparodien so schlimm (außer wenn sie schlecht gemacht sind)? Das ist die Kehrseite der Kommodifizierung und Eventisierung des Weihnachtsfestes, sie ist spätestens in den 1980ern zur Hochkultur avanciert (Stichwort: Loriot, Weihnachten bei Hoppenstedts uam., das sind heute Klassiker der Weihnachtskonsumkritik).
Ist Konsumkritik zu Weihnachten wirklich ein Phänomen, das erst in den 1970ern bei der asketischen Linken aufgetaucht ist? Oder ist es nicht schon früher ein gängiger Topos konservativ-bürgerlicher Kulturkritik, der gerade heute wieder besonders gepflegt wird? Vor einem Rundumschlag gegen linke Kulturkritik wäre das doch zumindest zu überdenken und zu überprüfen.
Das Wort Kapitalismus wird von jedem politischen Spektrum benutzt, wer wann wo davon spricht, das ist vor allem abhängig vom Kontext. Im Zusammenhang mit Dividenden-Stripping à la Cum-Ex etc. ist kaum irgendwo von “sozialer Marktwirtschaft” die Rede.
Auch nach dem Kollaps der Lehman Brothers 2008, der die gesamte Weltwirtschaft an den Abgrund geführt hat, sprach das politische Establishment von Kapitalismus, das ist mittlerweile gängig (unter anderem, weil es keine politische Bewegung mehr gibt, die eine Alternative aufzeigen könnte).
Gunther Hirschfelder benutzt das Wort im Interview gar nicht, er spricht vom “Wesen der kapitalistischen Konsumgesellschaft”, die in der “Logik” bestehe, den Konsum des Vorjahres stets noch steigern zu müssen (in diesem Kontext spricht er auch von “Logik des Events”).
Ich gehe davon aus, dass er damit keine moralisch verwerfliche Überbietung des Vorjahreskonsums meint (das wäre konservative Kulturkritik), sondern den ökonomischen Zwang eines kapitalistischen Verwertungsprozesses, der sich längst verselbstständigt hat - eben eine “Logik”, deshalb verwendet er mE den Ausdruck. Diese permanente Steigerung des Konsums gehört eben zum Wachstumsmodell des unseres Kapitalismus, für mich ist das einfach nur eine sachlich-neutrale Feststellung.
Gunther Hirschfelder hat einen Forschungsaufsatz publiziert, der in diese Richtung gehen könnte: “Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Ökonomie und Globalisierung : die Metamorphosen der Weihnachtsmärkte”.
Auch das sind keine linken Schlagworte, das ist ganz normales Forschungsvokabular.
Die großen Kirchen sollen froh sein, dass überhaupt mal jemand kommt. Darüber nachzudenken, was genau es denn ist, dass so viele Menschen an Heiligabend dorthin zieht, finde ich interessanter als die Kulturkritik in dem Interview. Auch die große Anziehungskraft der Weihnachtsmärkte wird einen Grund haben, der über sentimentalen Kitsch und Glühwein hinausgeht
Über die Gründe, warum die Menschen an Heiligabend in die Kirchen gehen (mit Glühwein in der Hand und Blinkmütze auf dem Kopf), spricht Gunther Hirschfelder im Interview und in seinen Forschungsarbeiten. Bestimmt gibt es dazu kontroverse Debatten, das spricht er in seinem Interview ja auch an.
Kirchgang an Heiligabend gehört eben auch zur Marke “Weihnachten”, das ist Teil der Show (das stammt jetzt von mir, nicht von Hirschfelder).
An diesem Titel war er auch beteiligt, das hört sich sehr interessant an:
“Kulinarische Weihnacht? Aspekte einer Ernährung zwischen Stereotyp und sozialer Realität” (zusammen mit Anna Palm und Lars Winterberg).
Ich habe nicht verstanden, warum du das Interview für “kulturkritisch” hältst und dann auch noch für “links” (und das ist dann offenbar gleichbedeutend mit ablehnungswürdig).
Gunther Hirschfelder, unter anderem Dozent der Deutschen Akademie für Kulinaristik (siehe Wikipedia), beschreibt doch aufgrund seiner langjährigen Forschungstätigkeit auf dem Forschungsgebiet “Weihnachtskultur” nurmehr eine Entwicklung?
Und so weiter, gerade denke ich, Weihnachtsstress kann viele Facetten haben, die einen stressen sich mit Weihnachten in der Familie und Gedichte aufsagen, die anderen Glühwein, und dann gibt welche, die stressen sich mit Weihnachtskritikdebatten in irgendwelchen Foren …
